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Hanauer Anzeiger vom 9. September 1901

Einweihung der neuen Kirche in Rückingen

Prächtiger Flaggen- und sinniger Girlandenschmuck unseres Nachbarortes Rückingen kündigte gestern an, dass ein für die Gemeinde hochwichtiger Akt bevorstehe und die schon seit lange getroffenen Vorbereitungen und Vorarbeiten nunmehr zum Abschluß gekommen waren. Es galt, dem nun fertig dastehenden, sich recht schmuck repräsentirenden Gotteshause die kirchliche Weihe zu geben, wozu von Cassel die ersten geistlichen Würdenträger des Konsistorialbezirks, von Nah und Fern die Herren Geistlichen, sowie dem kirchlichen Leben besonders nahestehenden Personen eingetroffen waren. Zurückgreifend auf das Geschichtliche dürften einige Daten bei dieser Gelegenheit nicht ohne Interesse sein. Schon lange musste sich die Gemeinde Rückingen mit einem alten, kleinen ungesunden Kirchlein, das allerdings auf eine an geschichtlichen Episoden reiche Vergangenheit zurückblicken konnte, behelfen. Deshalb gab bei der Feier des 400jährigen Geburtstages Dr. Martin Luthers am 11. November 1883 der damalige Pfarrer der Gemeinde, jetzige geschäftsführende Sekretär des Centralausschusses für innere Mission, Herr Eduard Fritsch, die Anregung zur Erbauung einer neuen Kirche. Zur Verwirklichung des Planes wurde am gleichen Tag ein Kirchbauverein gegründet, der sich zur Aufgabe machte, die Mittel zum Bau aufzubringen. Dieser Gedanke fiel auf fruchtbaren Boden, von allen Seiten flossen Beiträge, sodaß nach jahrelangen Sammlungen auf die Summe von ca. 20000 Mark geblickt werden konnte. Durch den Ankauf eines neuen Pfarrhauses im Jahre 1894 machte die Gemeinde den schweren Sorgen um die Erwerbung eines Bauplatzes ein Ende, indem sie mit großer Opferwilligkeit das bisherige Pfarrhaus mit Garten und Wirtschaftsgebäuden als Bauplatz zur Verfügung stellte. Die Mittel zu dem Bau (etwa 100 000 Mark) wurden gedeckt durch ein Allerhöchstes Gnadengeschenk von 20 000 Mk., Ertrag von Kirchenkollekten, den angesammelten Kirchenbaufond und die von der Kirche- und politischen Gemeinde übernommenen Leistungen. Am 30.Oktober 1899 konnte der Bau in Angriff genommen werden, am 10. Juni v. J. erfolgte in feierlicher Weise die Grundsteinlegung und gestern, nach kaum Jahresfrist fertiggestellt, konnte das Gotteshaus die kirchliche Weihe erhalten. Das hierfür aufgestellte Programm entwickelte sich in dem bereits bekannt gegebenen Rahmen ab. Nachmittags 2 ½ Uhr erfolgte ein Festzug vom Pfarrhause ausgehend nach der alten Kirche. Voran ging die Schuljugend, dann folgten Bauleitung und Bauleute, Generalsuperintendent Pfeiffer-Cassel und diejenigen Geistlichen und Kirchenältesten, welche die Heiligen Geräthe trugen, Konsistorialpräsident v. Altenbockum-Cassel und Vertreter der Behörden, als Vertreter des verhinderten Kgl. Landraths zu Hanau Regierungs-Assessor Valentiner, etwa 20 Geistliche im Ornat, Gemeindeverordnete der Kirchengemeinde, die Vertretung der bürgerlichen Gemeinde, Damen und Herren. In der alten Kirche angekommen, sang die Gemeinde: "Großer Gott, wir loben Dich", dann sprach Herr Pfarrer Schlicht ein Gebet, des Himmels Segen für den Einzug ins neue Gotteshaus erflehend, endend mit "Unser Vater". Mit dem Schlußgesang der Gemeinde "Unseren Ausgang segne Gott" ging die Abschiedsfeier in der alten Kirche zu Ende. Der Festzug ordnete sich dann wieder vor der Kirche und begab sich nach der neuen Kirche, woselbst vor dem Portale der feierliche Akt der Schlüsselübergabe an den Herrn Generalintendenten Pfeiffer, von diesem wiederum an den Ortsgeistlichen, vor sich ging. Der Kinderchor leitete den festlichen Akt ein durch den Gesang des Chors "Thut mir auf die schöne Pforte". Dann erfolgte die Eröffnung der Kirche und der Einzug in dieselbe.

Weihe der Kirche.

Den Höhepunkt der Festfeier bildete die Weihe des neuen Gotteshauses im Festgottesdienste, welche Herr General-Superintendent Pfeiffer-Cassel vollzog. Einleitend sang die ungeheuer angewachsene Festgemeinde zwei Verse des Liedes: "Herr Jesu Christ, Dich zu uns wend!" Leider konnte die neue Orgel am Einweihungstage noch nicht in Gebrauch genommen werden, da ihr Erbauer, Herr Ratzmann in Gelnhausen, schon seit längerer Zeit erkrankt, sein Werk nicht hatte vollenden können. An ihrer Stelle begleiteten daher Harmonium und mächtige Posaunentöne die von der Gemeinde gesungenen Lieder.
Nach einer warmen, eindringlichen Ansprache des Herrn Generalsuperintendenten an die Gemeinde übergab derselbe, anknüpfend an die agendarisch vorgeschriebene Weiheform, mit einem innigen Gebete das ganze Gotteshaus dem heiligen Dienste des Höchsten. Nach vollzogener Weihe legte er die von Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin der Gemeinde Rückingen übersandte kostbare Bibel alsl erhabenes Geschenk auf dem Altare des Gotteshauses nieder. Die Widmung an die Gemeinde ist auf dem ersten Blatt der Bibel eigenhändig von Ihrer Majestät eingetragen. Der Kirchenchor schloß mit dem erhebenden Gesang eines der Feier entsprechenden Liedes die Weihefeier ab. Auch in der nun folgenden Liturgie respondirte der Kirchenchor und ein kräftiger Kinderchor in sehr ansprechender Weise dem amtierenden Geistlichen.
Die Gemeinde sang darnach 3 Verse des Hauptliedes "Gott, Vater aller Dinge Grund", worauf Herr Pfarrer Schlicht als Ortspfarrer zum ersten Male die Kanzel betrat und im neuen Gotteshause die erste Predigt hielt. Anknüpfend an ein apostolisches Wort legte er in großen Zügen den Inhalt aller evangelischen Predigten der Gemeinde ans Herz, außmündend mit herzlichen Dankesworten an Gott den Herrn, der das vollendete große Werk so freundlich gefördert und gesegnet, sowie an alle Diejenigen, die sich um die Ausführung desselben verdient gemacht haben. Der mächtige evang. Dankeshymnus: "Nun danket alle Gott" und der Segen über die Gemeinde schloß die erhebende Feier. In der Sakristei der Kirche versammelte der Herr Präsident des Königl. Konsistoriums, Herr von Altenbockum, die Geistlichen der Klasse Bücherthal um sich und überreichte in deren Gegenwart mit herzlichen und anerkennenden Worten dem Ortspfarrer Herrn Schlicht den ihm von Sr. Majestät dem Kaiser und König verliehenen Rothen Adlerorden 4. Klasse. Die ungemein zahlreiche Festgemeinde verließ das Gotteshaus, aber viele blieben noch zurück, um sich das Innere der Kirche in seinen einzelnen Ausführungen genauer anzusehen.

Die neue Kirche

ist nach den Entwürfen des Kgl. Kreisbauinspektors Baurath Becker in Hanau, der auch die Bauleitung hatte, im frühgotischen Stil einschiffig als Kreuzkirche erbaut. Die Kirche enthält 644 Sitzplätze, der Thurm besitzt eine Höhe von 38,65 Meter. Die Architekturtheile sind aus rothem Mainsandstein, die Flächen aus rauhbearbeiteten Gelnhäuser Bruchsteinen hergestellt. Als Unternehmer waren bei dem Bau der Kirche thätig: Für den Gesammt-Rohbau einschließlich der Herstellung der Emporen die Firma J.C. Jäger und J.M. Rumpf in Hanau, für die Tischler- und Schlosserarbeiten die Firma A. Cratz & Söhne in Fechenheim; für die Kunstverglasungen die Firma K.J. Schultz in Marburg; für die Malerarbeiten die Firma C. Sommer in Frankfurt a.M. Nach dem kirchlichen Weiheakt fand im Saale des Gasthauses zum "Löwe" ein

Festmahl

statt, das ebenfalls den würdigsten Verlauf nahm, gewürzt durch zahlreiche Tischreden. Den Reigen derselben eröffnete Herr Konsistorialpräsident von Altenbockum, darauf hinweisend, daß wir zuvor in einer großen Zeit, in einer Zeit des wirtschaftlichen Fortschritts leben, daß aber auch die Gottentfremdung und Mißachtung der Religion und Sittlichkeit immer mehr überhand nehmen. Aber deshalb dürfen wir doch nicht verzagen, denn es ist auch eine Zeit, in der der Schirmherr unserer teueren evangelischen Kirche das Panier des Kreuzes hoch hält und sich nicht scheut, vor aller Welt sein eigenes Glaubensbekenntniß abzulegen und unermüdlich bestrebt ist, dem deutschen Volke den Glauben der Väter zu erhalten, eine Zeit, und das kann man besonders auch bezüglich der Gemeinde Rückingen sagen, in der die Gotteshäuser sich füllen, wenn die Glocken erklingen, eine Zeit, in der uns heute noch schöne würdige Gotteshäuser, wie das, was wir heute eingeweiht haben, errichtet werden, eine Zeit, in der uns innerhalb und außerhalb der Gemeinde Gaben gespendet werden, in der speziell unser allergnädigster Kaiser und König seine schützende Hand über die Kirche hält. Eine solche Zeit hat noch Bruderliebe und Zukunftshoffnung und dies Bewußtsein gibt uns neuen Muth und neue Freudigkeit. Auch der heutige Festtag nach Erreichung des langersehnten Zieles der Rückinger, ein schönes neues Gotteshaus zu erhalten, ist ganz dazu angethan, uns mit Muth und Freudigkeit zu erfüllen. Unsere Hoffnungen und Wünsche gehen dahin, daß von dem neuen Gotteshause, das Raum für Viele hat, reicher Segen ausgehen möge für die ganze Gemeinde. Wir bringen unserem Gott und nächst ihm unserem Kaiser nebst seiner hohen Gemahlin ehrfürchtigen Dank für den gnädigen Schutz und Beistand zur Erlangung des heißersehnten Zieles aus. Mit einem begeistert aufgenommenen Kaiserhoch schloß Redner seine Worte. Herr Generalsuperintendent Pfeiffer-Cassel hob in seiner Ansprache vorerst hervor, wie nothwendig der Bau des neuen Gotteshauses seit längerer Zeit schon war, hoch, gewaltig und mächtig stehe das Haus jetzt aber da, das der Gemeinde nun durch Gottes Gnade und treues Zusammenwirken der Menschen geschenkt ist, während armselig und klein das alte war. Und doch, wenn das Gotteshaus hätte erzählen können, was hätte es uns nicht alles mitzutheilen vermocht von bitterer Noth und rauhen Stürmen, die den Ort Rückingen durchbraust haben. Redner erinnerte dabei an den 30jährigen Krieg, an die Schlacht bei Hanau 1813 ec. und hob dann fortfahrend die Verdienste hervor, die sich das Presbyterium und die politische Gemeinde Rückingens um die Errichtung des nun vollendeten schönen Baues erworben haben, vor allem auch die Opferfreudigkeit des Kirchbauvereins, der seit 18 Jahren in unausgesetzter Wirksamkeit 20000 Mark zusammengebracht habe. Mit dem Wunsche, dass durch dieses neue Gotteshaus auch neues Leben, neue Freudigkeit, neuer Glaube und neue Hoffnung in der Gemeinde erwachen werde, damit es auch hier heißen könne: " Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu worden;" ließ Redner seine Worte ausklingen in ein Hoch auf die Gemeinde Rückingen. Herr Pfarrer Schlicht-Rückingen gibt zwar zu, dass seine Gemeinde sich große Opfer auferlegt habe, doch sei das Hauptverdienst der Fürsorge der hohen Staatsbehörden zugeschrieben, auf deren Spitzen er dann auch toastete. Inzwischen war ein Begrüßungs-Telegramm des Herrn Regierungspräsidenten v. Oertzen (früher Landrath in Hanau) aus Lüneburg eingegangen, das unter lebhaftem Beifall der Anwesenden von Herrn Generalsuperintendenten Pfeiffer verlesen wurde. Der Vorschlag, dem Herrn Regierungspräsidenten den Dank der Versammlung drahtlich zu übermitteln, wurde allseitig freudig acceptirt. Herr Superintendent Sopp betonte vorerst die Bedeutung des Tages, es sei ein Tag hoher Feier und großer Freude, denn für eine Gemeinde ist es doch ein Ereigniß, eine neue Kirche zu bekommen. Daß dies Bewusstsein auch in der Festgemeinde herrscht, beweist die überaus rege Theilnahme der ganzen Bevölkerung. Die Kirche sei ein neuer und günstiger Sammelpunkt, doch habe auch schon die alte Kirche diese Anziehungskraft gehabt, wie die Chronik beweise, nach der die Bevölkerung aus dem ganzen Hanauer Lande ihren Sammel- und Vereinigungspunkt hier in Rückingen gehabt habe. Dankbar gedenkt Redner Derer, die zur Verherrlichung des Tages beigetragen und Derer, die ihr Interesse jederzeit der Sache zugewandt haben, speziell des eigentlichen Gründers und Vaters der nunmehr mit Erfolg gekrönten Bestrebungen, des früheren Pfarrers von Rückingen und jetzigen Sekretärs des Zentralausschusses für innere Mission in Deutschland, Herrn E. Fritsch, dem auch sein Hoch galt. Herr Fritsch-Berlin gab seinen Gefühlen und Empfindungen bei einem Rückblick auf die Zeit, die er inmitten der Rückinger Gemeinde verleben durfte, und im Anblick des heutigen schönen Gotteshauses beredten Ausdruck, würdigte die Verdienste der Bauleitung durch anerkennende Worte und toastete auf den an der Spitze derselben stehenden Herrn Baurath Becker. Herr Pfarrer Strobel hatte seine Erinnerungen an die Zeit, die er als Pfarrer in Rückingen verlebte, in ein poetisches Gewand gekleidet und erntete für sein ebenso packendes und ergreifendes als formvollendetes dichterisches Produkt stürmischen Beifall und allseitige begeisterte Gratulationen. Herr Generalsuperintendent Pfeiffer toastete schließlich noch auf den Herrn Ortspfarrer Schlicht als die eigentliche Seele der Kirchenbaubestrebungen. Als die Stimmung animirter und fröhlicher wurde, wurden auch verschiedene heitere Toaste vom Stapel gelassen, u. A. einer von Herrn Pfarrer Bechtel-Ravolzhausen auf die Damen als Verschönerer der Feier. Dem in allen Theilen prächtig verlaufenen Festmahl schloß sich eine

allgemeine Nachfeier

für die Familien der Rückinger Bewohner an, welche in Bezug auf gehobene Stimmung nichts zu wünschen übrig ließ und alle Anwesenden bis in die späten Nachtstunden in ungetrübter Freude beisammen hielt. So verlief und endete der hohe Festtag der Rückinger Gemeinde in jeder Beziehung tadellos und mit Stolz und Genugthuung kann dieselbe auf das Werk ihrer ausdauernden Opferfreudigkeit jetzt und immerdar schauen.


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